Ein Paar sich liebender Schuhe

An einem September morgen erwachte er auf einem Fließband einer Schuhfabrik in Neuenberg zum Leben.

Noch ein wenig desorientiert vom stark riechenden Kleber, begann er sich während seiner Reise auf dem schwarzen Rollband umzusehen. Licht, bestrahlte ihn und neben lautem Rattern hörte er Musik. Alles war fremd und er konnte all die Eindrücke nicht verarbeiten. Also konzentrierte er sich auf seine Reise, als ihn jemand von der Seite ansprach. „Hallo, ich bin Betti.“ Eddi schaute zu Seite und sah ein braunes Ledergefäß, dass ihn freundlich anschaute. „Ich bin Eddi“, sagte er erfreut, nicht allein zu reisen. „Wohin geht die Reise ?“ „Gerade aus und dort vorn links. Dann werden wir sehen, was kommt.“

Was dann kam war ein Plumps und die beiden fielen in einen dunklen Karton. Sie wurden mit Papier bedeckt und zugedeckelt. Nach einer schier endlosen Zeit des Rüttelns, Schüttelns und lauter Geräusche, in der sich beide angstvoll aneinander kuschelten, wurde der Deckel abgenommen und Licht traf sie in voller Stärke. Eddi und Betti blinzelten und waren gespannt, was nun passieren würde. „Eddi, bleib bei mir.“, sagte Betti ganz kläglich. In der langen Zeit der Dunkelheit hatten sich beide echt aneinander gewöhnt und mochten sich nun sehr. „Keine Angst, Betti, wir schaffen das schon.“ Doch im nächsten Augenblick wurde Betti allein in den Karton zurückgesteckt und wieder zu gedeckelt.

Eddi jedoch wurde auf den Behälter in das Licht gestellt. Als er sich umsah, bemerkte er, dass sehr viele Lederbehälter in seiner Nähe standen und im Vergleich zu Betti sehr komisch aussahen. Betti hatte ihm gleich gefallen, doch diese hier hatten verschiedene Farben und merkwürdige Formen.

„Betti!“, rief er verzweifelt. Und obwohl er nicht erwartet hatte, dass sie ihn hören konnte, hörte er ein leises Rufen: „Eddi, Eddi, bist du hier ?“

Eddi stellte fest, dass das leise Rufen aus dem Behälter unter ihm kam. „Ich bin hier draußen, über dir. Hab keine Angst. Hier sind noch mehr von uns . Die sehen alle ganz komisch aus. Oh, was sind denn das für merkwürdige Wesen?“ Eddi sah wie riesige Gestalten hin und wieder einen der der bunten Lederbehälter nahmen und auf ihm herumdrückten und ihn drehte und wendete.

"Das sind Menschen", sagte der grüne Behälter hinter ihm, der schon einigen Staub auf seiner grünen Farbe hatte. „Was sind Menschen?“, fragte Betti neugierig aus ihrem Behälter. Sie sollte bald erfahren, was Menschen waren, denn nun kam einer von denen auf Eddi zu, nahm ihn in seine Hand, drehte und drückte ihn und holte Betti aus ihrem Karton raus. Er stellte beide nebeneinander auf die Erde. Von dort aus beobachteten Eddi und Betti, wie der Mensch ein paar sehr schlecht aussehende Kameraden von seinen Füßen zog. Ein mächtiger Geruch entwickelte sich und wehte als Wolke den beiden entgegen.

Betti wurde ergriffen und ein riesiger stinkender Fuß drückte und drängelte sich in Betti hinein. Sie schrie: „au ,ah“, doch es half nichts. Der Fuß verschwand ganz in ihr. Nun war Eddi dran. auch er schrie während er geweitet und gequetscht wurde. Nun stand der Mensch auf und trat auf ihnen herum. Der große Zeh stieß unablässig gegen Eddis Bauch. Das schmerzte. Doch plötzlich hörten Eddi und Betti auf zu stöhnen und vergaßen einen Moment lang ihre Pein. Sie standen vor einem Spiegel und konnten sich sehen. „Betti ist sehr schön“, dachte Eddi. Betti sagte „Du Eddi ich sehe aus wie du“. Da fiel es Eddi auch auf. „Ja , wir beide sind ein Paar.“

Der Mensch fand wohl auch, dass die beiden recht hübsch waren. Er steckte Eddi und Betti zurück in den Karton und ging mit ihnen zur Kasse. Dort wurden sie aus- und wieder eingepackt, ehe sie endgültig in einer Plastiktüte verschwanden. Der Mensch war zufrieden und Eddi und Betti auch, denn sie waren wieder gemeinsam, dicht aneinander geschmiegt in ihrem Karton.

Am nächsten Morgen wurden Eddi und Betti jäh aus ihren Träumen gerissen. Der Karton wurde geöffnet und jeder wurde von einem großen Fuß bestiegen, an ihm festgeschnürt und mit ihm ins Freie getragen. „Eddi“, sagte Betti, „das ist schrecklich. Mir tut alles weh.“ Uh, bei mir stinkt es, sagte Eddi, als der Mensch durch etwas Modriges latschte. Tausende kleiner Steinchen pieckten die beiden von unten, während der Mensch von oben in voller Last auf ihnen abrollte.

Auf ihrem qualvollen ersten Weg an den Füßen eines Menschen trafen Eddi und Betti hin und wieder Artgenossen, die ebenfalls gedrückt und gequetscht an den Füßen anderer Menschen an ihnen vorbei marschierten. Doch der Tag brachte ihnen auch schöne Zeiten. Denn als der Mensch an seinem Schreibtisch saß, lagen Eddi und Betti dicht beieinander im Dunklen und hatten viel Zeit für sich allein. Sie vergaßen, dass sie Füße in sich trugen, die hin und wieder ihren Bauch attackierten und erzählten sich lederne Geschichten aus längst vergangenen Zeiten.

Auf dem Heimweg waren Füße und Schuhe müde, verschwitzt und schmutzig. Sehr schnell bekamen Eddi und Betti mit, dass die Füße nicht ihre Feinde waren. Denn die waren sehr froh, aus den engen Schuhbehältern schlüpfen zu dürfen. Allerdings ging es ihnen ein wenig besser, denn die wurden am Ende des Tages gewaschen. Eddi und Betti dagegen wurden mit Steinen und Schlamm in eine Ecke gestellt. In der Ecke stand schon ein stinkiges Paar Stoffschuhe mit abgerissenen Senkeln und einem Loch in der Sohle. „He, ihre beiden!“, rief Eddi, „steht ihr schon lange hier? Müde öffnete der eine die Augen und antwortete: „Wir sind schon sehr alt und haben eine Menge gesehen. „Ihr seid die Neuen, oder?“ „Lange sind die nicht mehr neu.“, sagte der andere Stoffschuh und kicherte leise. „Ich bin Eddi und das ist Betti.“, sagte Eddi zu den beiden. „Wir haben uns gerade erst kennen gelernt und lieben uns sehr.“ „Ja so ist das.“, sagte der rechte Stoffschuh, der Niki hieß und warf einen liebevollen Blick auf Nik. „Auch wir haben im Karton gekuschelt.“

Am nächsten Morgen wurden Eddi und Betti wieder angezogen und getreten und gequetscht. Doch nachdem sie sich an die Pein gewöhnt hatten, beobachteten sie interessiert die Welt in der sie herum getragen wurden. Diesmal dauerte der Weg auf den piekenden Steinen etwas länger und sie landeten nicht im Büro unter dem Schreibtisch, sondern auf einem lauten Bahnhof, auf dem sich so allerhand Schuhzeug herumdrückte. Große, kleine, bunte, braune Artgenossen warteten trampelnd an den Füßen ihrer Besitzer.

Und plötzlich kam ganz schnell ein Monster auf Eddi und Betti zugerast. Sie wollten beide am liebsten davonlaufen, aber die Füße ließen sie nicht. Wenig später wurden sie in den Bauch des Monsters getragen und standen schließlich in einer Reihe mit mit all den wartenden Lederbehältern, von denen sie einige schon auf dem Bahnsteig gesehen hatten.

Nun fing ein reges Gespräch an. Die blauen Behälter neben ihnen schwatzten munter mit den weißen Stoffschuhen in der gegenüberliegenden Reihe. Von ganz hinten rief jemand „ Morgen Bela tiao und Bela ti, wohin geht es denn heute?“ „Wie immer, zur Arbeit.“ „ Und wie ist das mit Euch?, fragte einer der roten Schuhe zwei Positionen weiter Rechts von Eddi, „heute schon geputzt worden?“

„Ach woher“ schallte es wieder aus der Ecke hinten.“ Als ob sowas heutzutage noch passiert!“ „Sag das nicht“, mischte sich ein unmoderner Lackschuh mit seiner Kameradin arrogant ein. Oder sollen wir etwa so rumlaufen wie diese beiden da?“ Und plötzlich schienen alle Eddi und Betti zu betrachten. Sie sahen einige die Nase rümpfen. „Die Ärmsten.“, sagte eine schwarz-weiße Lady. “Der Mensch sollte sich was schämen, Neue so rumlaufen zu lassen. „ Jawoll“, rief es von allen Seiten. „Schämen sollten sich diese Griesgnaddels, seht sie Euch an.“, rief Bela tiao.“ Zwei lange Reihen Schuhe blickten zu den in der Bahn sitzenden und trübselig vor sich hin stierenden Menschen hinauf.

„Wollen wir ein bischen Spaß haben? fragte Eddi, dem plötzlich eine Idee gekommen war.

„Passt mal auf“ Alle sahen zu Eddi, währen der sich reckte und streckte und plötzlich hielten seine seine Schnüre nicht mehr. Betti tat es ihm nach. Die anderen hatten verstanden und rekelten sich ebenfalls, bis die Schnürsenkel, Schnallen und Druckknöpfe aufsprangen.

Ein heiden Spaß hatten die Schuhe bei jedem, dem es gelungen war die Verschlüsse zu öffnen. Die Sache wurde erst richtig heiter, als sich die Menschen reihenweise herunter beugten um ihre Schuhe wieder zuzumachen. Dabei stießen sie nämlich mit den Köpfen aneinander und ein Chaos entstand. Es wurde noch größer, als der Zug plötzlich unsanft nach der Einfahrt in einen Bahnhof bremste. Einige Menschen schafften es nicht mehr die Schuhe zu zubinden und traten sich gegenseitig auf die Schnüre, wobei sie stolperten und keine so gute Figur machten.

„Mehr Rechte den Schuhen“, brüllte Bela ti lachend und selbst die Teilnehmer an dem Spaß, die von ihren Menschen stolpernd hinaus getragen wurden, stimmten mit ein.“

„Hey Eddi, das war cool“, sagten Bela tiao und Bela ti beim Hinausgehen an der nächsten Station. „Hoffentlich sehen wir uns mal wieder.“

„Bestimmt !“, sagten Eddi und Betti. Die weitere Fahrt war recht langweilig, da sie allein in der Bahn waren. Bald darauf wurden Eddi und Betti von ihren Füßen aus der Bahn getragen und hoch und runter geschleppt. Plötzlich blieben sie stehen und Eddi wurde mit samt dem Fuß in einen Kasten gesteckt. Große Bürsten bewegten sich auf ihn zu und begannen zu kreisen. Eddi fing an zu kichern: „ Huch, das kitzelt, aufhören“ Doch die Bürsten hörten nicht auf. Eddi hatte keine Chance sich zu wehren. Er wand sich und schrie, lachte und in dem alles erfassenden Kitzelgefühl und schnappte nach Luft, als es endlich wieder aufhörte. Der Fuß hob ihn aus den Kasten, stellte ihn ab. Nun war Betti dran. Ihr erging es nicht viel anders und sie kam nach einiger Zeit kichernd und prustend aus dem Kasten. Wunderschön sah sie aus, seine Betti. Eddi konnte kein Auge von der wunderbar glänzenden und strahlenden Ledergestalt lassen. Auch Betti bemerkte, nach dem sie sich beruhigt hatte, dass Eddi nun aussah, wie ihr Held aus einer der alten Sagen. Sie waren sauber, dufteten gut und waren ihrem Besitzer dankbar für diese Aufmerksamkeit.

Und so begleiteten die Beiden ihren Menschen Tag für Tag, mal sauber und mal schmutzig. Sie trafen ihre Freunde in der Bahn und kuschelten in dunklen Ecken.

Als sich ihr Mensch eines Tages ein Bein brach, musste Eddi viele Tage allein die Last des Menschen tragen. An Bettis Fuß machte sich ein Gehgips breit.

Betti freundete sich inzwischen mit dem alten Paar in der Ecke an, vermisste Eddi jedoch sehr. Eddi versuchte in der Zeit mit seinem klobigen Partner Kontakt aufzunehmen. Doch diese Kalkwand redete nicht mit ihm. Empört erzählte er Betti, wie dieser Klotz Bela tiau in der Bahn getreten hatte. „Bela ist ganz weiß geworden und die Füße in ihm sind geschwollen.“ „Es wird Zeit, dass der der Mensch Dich wieder braucht, Betti. Sonst verstaubst du hier noch ganz und ich werde noch verrückt mit dem.“ 

Eines morgens, noch immer befand sich der klobige Schweigende an Bettis Platz, sah Eddi auf dem stachligen Weg zur Arbeit ein großes braunes Hindernis direkt vor sich. Er hatte solche Hindernisse schon oft gesehen, aber immer aus sicherer Entfernung. Er hatte auch oft genug beobachtet, wie die vierbeinigen Freunde der Menschen diese unter heftiger Anstrengung hervorbringen. Diesmal wurde Eddi direkt darauf zu gesteuert. Nur noch zwei Schritte. Hatte der Mensch keine Augen im Kopf? Ein beißender, widerlicher Gestank kam immer näher. Eddi tränten die Augen. Er blinzelte und als er die Augen wieder aufschlagen wollte, waren sie von einer weichen, braunen Masse verklebt. „Er hat's getan“, dachte sich Eddi, „er hat mich in diesen Haufen gesteckt“. Eddi wurde ein Stück mitsamt dem Fuß hochgehoben und mehrmals wieder unsanft auf die Erde gestampft. Dabei fiel ein Stück Masse von Eddis linkem Auge. Er sah gerade noch, wie es in einem hohen Bogen flog und auf seinem weißen klotzigen Partner landete. Na wenigstens hatte der nun auch was davon. Eddi war es den ganzen Tag übel wegen des Gestankes. Die angetrocknete Masse auf seinem Leder fühlte sich unangenehm an.

Als Betti ihn am Abend sah rief sie entsetzt: „Oh, Eddi , du siehst so scheiße aus, was ist passiert?“ Doch ehe Eddi antworten konnte, wurde er aufgehoben und in eine Wanne voller Wasser gelegt. Er rang nach Luft, wurde herausgenommen, geschrubbt und wieder hinein gesteckt. Nach einer Weile fand es Eddi ganz lustig im Wasser, vor allem als dieser schreckliche Geruch um ihn nachließ. Schließlich wurde er noch einmal abgebraust -das war schön- und dann mit Zeitungspapier ausgestopft und zurück zu Betti gestellt. „Eddi“, fragte sie,“bis du das ? Du bist ganz bleich. Man hat dir Deine Farbe gestohlen.“ Als Eddi an sich herabsah, war aus dem schönen Braun seines Leders ein unregelmäßiges Orange geworden. Ob ihn Betti so noch wollte? Betti wollte ihn noch, nicht aber der Mensch. Er nahm Eddi und Betti und steckte sie beide in eine Tüte. Dort blieben sie eine lange, lange, lange Zeit.

Als die Tüte wieder geöffnet wurde, fiel eine Menge Staub auf Betti und Eddi herab. Die beiden hatten ein wenig geschlummert, denn mit der Zeit war ihnen allein der Gesprächsstoff ausgegangen. Es war nicht der Mensch, der seine Füße in sie gesteckt hatte, sondern ein ganz anderer, der sie aus der Tüte holte und auf einen Tisch stellte. Er und zwei andere Menschen gingen staunend immer wieder um den Tisch herum und riefen erstaunt „Schuhe, Schuhe“. In den nächsten Tagen kamen noch mehr Menschen und taten das Selbe. „Eddi, werden wir wieder verkauft?“, fragte Betti. „Ich weiß nicht, Schatz, aber es kommt mir komisch vor.“

Bald darauf wurden sie wieder verpackt und an einen anderen Ort getragen. Eddi wurde dort wegen seiner Farbe behandelt und Betti vom Staub befreit. Sie sahen nun wieder aus wie ein Paar, beide braun, glänzend und schön.

Dann wurden sie in einen Raum gebracht, der voller Kameraden war, die in Glasschränken standen. In einem der Schränke war noch ein Plätzchen frei für Eddi und Betti.

Jeden Tag kamen nun Menschen um sie anzusehen. Manche von ihnen waren verwundert, wieder andere lachten über sie. „Oh, Betti“, sagte Eddi, „sieh mal, die treten gar nicht auf solchen, wie uns rum.“ „Tatsächlich“, sagte Betti, „keiner von denen hat mehr Lederbehälter an. Alle haben sie diese bunten Lampen an den Füßen“ Das sind Schmuckkraftfelder“, sagte Karl, der Stiefel, der neben ihnen stand. Der Ärmste hatte seine Partnerin im Krieg verloren und war seitdem allein. „Die tragen schon lange keine von uns mehr. Das machen die alles mit Eneeergieee.“

„Woher weißt du das?“ fragte Eddi. „Als die das Museum für Fußbekleidung hier aufgestellt haben, haben eine Menge Menschen hier Vorträge gehalten, über Schuhe, und so und warum die uns alle, hier hinein gestellt haben. Wir können nämlich froh sein hier zu stehen. Wir sind die Letzten unserer Art, die noch existieren. Seit die Menschen die bunten Energiedinger erfunden haben, trägt keiner von ihnen mehr Schuhe, weil die die Füße drücken. „Die haben uns getreten, rief Betti empört“ Das mag schon sein, sagte der alte Stiefel, dass das mit dem Drücken und Treten gegenseitig war. Nun ist es aber anders und wir sind hier. Hier ist es nicht schlecht. Es ist immer etwas los und wir werden ewig leben, solange die Menschen die Vergangenheit ehren.“

Eddi und Betti nickten zustimmend und lauschten dann ein paar Kindern, die sich eine Geschichte von Omas Schuhen erzählten. Sie erinnerte an Bela ti und Bella tiau.

Und wenn das Museum nicht geschlossen wurde, dann stehen sie dort noch heute.